Jungfrau Zeitung - Die Eisprinzessin aus Oberdiessbach

2022-08-20 11:07:56 By : Ms. Doris Hu

Acht Uhr morgens und gefühlte Temperaturen um den Gefrierpunkt – das Ganze dann noch direkt neben einem Eisfeld. Ja, es gibt (zumindest für mich) wahrlich angenehmere Locations. Doch spätestens als Vianne Guggisberg in voller Trainingsmontur mit einem breiten Grinsen aus der Kabine kommt, verfliegt die «Verfrorenheit» meinerseits. Mit sicherem Schritt trotz Gummi- anstatt Eisunterlage kommt sie kurz vorbei, stellt sich vor und stampft dann auf direktem Weg weiter in Richtung Eisfläche.

Nur beim (Wunsch)-Gedanken daran, solche Kurven auf die Eisfläche im Thuner Grabengut zu fahren, sehe ich mich bereits händeverwerfend auf dem eisigen Boden liegen. Nicht so Vianne. Gemeinsam mit Trainerin Natalie Delessert dreht sie Runde für Runde, mal vorwärts, mal rückwärts – gerade so, wie es ihr passt.

Die erst neunjährige Guggisberg macht einen sehr aufgestellten Eindruck. Und das täuscht nicht, wie Mutter Nathalie Guggisberg anfügt. «Sie war schon immer ein richtiges Energiebündel und braucht die Bewegung», sagt sie und erzählt auch gleich eine lustige Anekdote, wie ihre Tochter überhaupt zum Eiskunstlaufen kam. «Wir liefen mit ihr, als sie zweijährig war, an einer Eisbahn vorbei, und sie wollte unbedingt auch auf das Eis. Ich habe dann zur Sicherheit noch nachgefragt, ab welchem Alter Kinder denn überhaupt auf das Eis dürfen. Die Dame meinte dann, sobald sie Lust hätten. Und ja, dann sassen wir den ganzen Nachmittag dort und brachten Vianne fast nicht mehr vom Eis.»

Es war der Anfang eines heissgeliebten, mittlerweile aber auch zeitaufwändigen Hobbys der Neunjährigen aus Oberdiessbach. Ziemlich rasch standen für Guggisberg dann auch die ersten Trainingsstunden beim Eislauf-Club Thun an, nachdem Trainerinnen ein gewisses Talent bei ihr ausmachten. Ein solches ist unweigerlich vorhanden, wie sich in den folgenden Jahren herausstellte. Mutter Nathalie Guggisberg fügt aber an, dass ihre Tochter auch unheimlich «hartnäckig und extrem fleissig» sei.

Inzwischen fanden auf der Thuner Kunsteisbahn die ersten Sonnenstrahlen ihren Weg durch die Balken auf die Eisfläche – auch temperaturmässig wurde es etwas angenehmer. Vianne wechselte, ohne es zu merken, auf die überdachte Eisfläche und huschte nach den Einwärm-Übungen gefühlt noch etwas schneller über die glatte, kalte Oberfläche als davor. Sie wolle ein paar Sprünge machen, meinte sie dann zu ihrer Trainerin. Gesagt, getan. Und ehe ich anfügen konnte, dass wir uns danach doch kurz unterhalten könnten, zauberte sie eine Drehung nach der anderen inklusive Sprünge auf das Eis.

«Es macht mir einfach mega viel Spass auf dem Eis. Und auch die Sprünge und verschiedenen Schrittfolgen zu trainieren, ist einfach cool», sagt sie dann, als ich sie am Rand des Eisfelds kurz mal erwische. Das viele Training – mittlerweile sind es etwa 20 Stunden wöchentlich – machen ihr dabei nichts aus. «Das gehört dazu, wenn man im Kader dabei sein will», sagt sie bestimmt.

Dank einer Talent Card von Swiss Olympic hat Vianne Guggisberg ideale Voraussetzungen, um Schule und Sport zu verbinden, wie ihre Mutter erklärt. Morgens sitzt sie dabei meist in der Schule, nachmittgas geht es für sie dann aufs Eis. Das Programm der Neunjährigen ist dabei straff und komplett durchgeplant: Montag Training dort, Dienstag da und so weiter.

Die meiste Zeit verbringt die Oberdiessbacherin dabei mit Trainerin Natalie Delessert auf dem Eis in der Ischi Arena in Brig und im Grabengut in Thun. Delessert erkannte das Talent der jungen Athletin früh. «Ich habe schnell gemerkt, dass sie gut läuft. Und es macht wirklich extrem viel Freude, mit ihr zu arbeiten. Sie ist immer so voller Energie und hat Spass daran – das macht es für mich als Trainerin natürlich auch einfacher», so Delessert.

Sie ist immer so voller Energie und hat Spass daran – das macht es für mich als Trainerin natürlich auch einfacher

Druck vonseiten der Eltern gibt es, was möglicherweise vermutet werden könnte, aber nicht. Im Gegenteil. «Nein, definitiv nicht. Das ist ihre persönliche Entscheidung. Solange sie das gerne macht und Spass dabei hat, passt das. Falls das mal nicht mehr so ist, sind wir als Eltern sicher die Letzten, die eine solche Entscheidung nicht akzeptieren», führt ihre Mutter aus.

Das Hobby von Vianne Guggisberg ist dabei nicht nur für sie selbst, sondern auch für die Eltern ziemlich aufwändig. Sei es in organisatorischer aber auch in finanzieller Hinsicht. Es ist aber auch ein Aufwand, den man gerne betreibe, wie Nathalie Guggisberg sagt. «Das ist natürlich so, man muss aber auch sagen, dass Vianne wirklich sehr selbstständig ist, was es etwas leichter macht.» Während sie die Zugfahrten zum Training nach Brig sogar allein macht, sind bei den Wettkämpfen Vater, Mutter und Geschwister meist dabei. «Mittlerweile sind die Reisen an die Wettkämpfe auch so was wie Familienausflüge – wir geniessen diese Zeit.»

Guggisbergs letzter Wettkampf liegt dabei noch gar nicht so lange zurück. Vor etwas mehr als zwei Wochen stand in Rapperswil mit der erstmaligen Teilnahme an der Schweizer Meisterschaft das absolute Karriere Highlight auf dem Programm. Die Qualifikation für die Wettkämpfe schaffte die Neunjährige dabei dank guter Auftritte im Swiss Cup diese Saison. Sie qualifizierte sich dabei als drittjüngstes Mädchen für das Kräftemessen in der Kategorie U12.

Ein Spitzenresultat war, da sie eine der jüngsten Läuferinnen überhaupt war, natürlich nicht zu erwarten. Die Leistung mit dem 31. Schlussrang unter insgesamt mehr als 40 Teilnehmerinnen konnte sich aber sehen lassen. «Sie hat das wirklich klasse gemacht und ist das Kurzprogramm und die Kür wirklich selten besser gelaufen», meint Trainerin Delessert.

Speziell waren die Meisterschaften für Vianne auch deshalb, weil das Drumherum wirklich wie bei einem internationalen Eiskunstlaufbewerb war. «Es gab einen Livestream, und nach dem Auftritt mussten sich alle wie bei den Profis mit der Trainerin hinsetzen und auf die Bewertung warten. Vianne hat einfach über beide Ohren gestrahlt – das war wunderbar», so ihre Mutter.

Mittlerweile ist Vianne auf dem Eis nicht mehr zu bremsen. Immer wieder fährt sie an den Rand zu ihrer Mutter und fragt aufgeregt nach, welche Sprünge und Schrittfolge sie denn noch trainieren soll. Auch will sie wissen, wie viel Zeit ihr noch bleibt, bis sie dann auf den Zug muss. Und auch ich bemerke, wie rasch die letzte Stunde vorbeiging – den etwas wärmeren aber immer noch relativ kalten Temperaturen zum Trotz.

Von Olympia oder einer Profikarriere hat sie wirklich noch nie geredet. Nur dass sie später mal gerne Eiskunstlauf-Trainerin werden möchte

Wie es für die Nachwuchsläuferin aus Oberdiessbach in Zukunft weitergeht, konnten weder sie noch ihre Mutter genau sagen. Von Träumen einer Profikarriere oder einer Teilnahme an Olympischen Spielen hält sie aber nicht viel. «Ich möchte einfach Eislaufen und an einigen Wettkämpfen teilnehmen – wirkliche Ziele habe ich aber nicht», meint Vianne. Und Mutter Nathalie fügt an: «Von Olympia oder einer Profikarriere hat sie wirklich noch nie geredet. Nur dass sie später mal gerne Eiskunstlauf-Trainerin werden möchte.»

Auf diesem Weg werden sie und ihr Mann Vianne, solange sie an ihrem Hobby Spass hat, weiterhin tatkräftig unterstützen. Und falls sie dann doch irgendwann einen anderen Weg einschlagen wolle, sei das absolut in Ordnung. «In all diesen Jahren hat Vianne auf jeden Fall auch ganz, ganz viel für ihr weiteres Leben gelernt», sagt ihre Mutter. Und wer weiss, vielleicht wird die ehrgeizige Nachwuchsläuferin irgendwann ja doch mit einer Profikarriere oder einer Olympiateilnahme liebäugeln. Vorerst steht aber weiterhin eines im Vordergrund: der Spass!